Ein Oberkörper, der sich oberhalb der Hüfte um 360 Grad dreht, ein Kopf, der plötzlich dem Rumpf um Armeslänge vorausschwebt, man mag seinen Augen kaum trauen, wie glaubhaft Victoria Chaplin und Jean Baptiste Thierrée beim "Cirque Invisible" allen anatomischen und optischen Gesetzen widersprechen. Das Künstler-Ehepaar zeigt auf der Bühne des Isis-Zelts beim Altstadtherbst zwei Stunden lang großes Kino für Augen und Herz. Seit 30 Jahren sind die beiden als Missionare für eine neue Art des Zirkus unterwegs, suchen nach neuen Inhalten und Formen für diese Kunst. Die traditionelle Manege ist bei ihnen nur noch durch einen großen stilisierten Kreis präsent, Sägemehl fehlt ebenso wie lärmende Musik oder wilde Tiere, mal abgesehen von Kaninchen und einer kleinen Entengruppe, die überaus goldig zu einem Okarina-Duett singt, respektive quakt. Mit "Cirque Invisible" setzen die zierliche Chaplin mit ihrer langen schwarzen Mähne und der verschmitzt grinsende Thierrée mit Andy-Warhol-Frisur auf leise, verträumte Töne, sie verzaubern durch fantasievollen Mummenschanz und mimikryhafte Verwandlungen von vermeintlich unbelebten Gegenständen zu stolzen Fabelwesen sowie durch viel magischen Schabernack, von Thierrée stets feixend aus einer großen Sammlung von Koffern vorgeführt. Victoria Chaplin, die von ihrem berühmten Vater den unschuldigen Blick aus den großen Kulleraugen geerbt hat, zeigt mit vielen Kostümierungen scheinbar unmögliche Metamorphosen. So wird aus einer weit ausgestellten Rokoko-Robe in wenigen, beiläufig dahinschwebenden Handgriffen plötzlich ein Pferd. Jede ihrer Bewegungen ändert das Bild, kaum meint man das Dargestellte zu erkennen, entsteht schon wieder etwas Neues. Ein Höhepunkt ist sicher ihr Auftritt als wandelnde Spieluhr, bei dem sie mit Kristallschüsseln und Blechtöpfen "bekleidet" über die Bühne schreitet und dabei mit Holzschlägeln höchst poetische Klänge hervorbringt. Ihr Drahtseil-Balanceakt demonstriert außerdem, dass die 54-Jährige auch das klassische Terrain beherrscht. Jean Baptiste Thierrée ist dagegen fürs Komische zuständig. Natürlich kann er auch richtig zaubern, Häschen und Tauben inklusive, aber bei ihm darf auch mal etwas daneben gehen. Seine Jonglage-Nummern oder die klassische "zerteilte Jungfrau" etwa vergeigt er aufs Köstlichste, rettet sich dann gerne mit kleinen Albernheiten aus den gespielten Malheurs. Manche seiner Auftritte sind nur wenige Sekunden lang, präsentieren ihn in überdrehten Verkleidungen, die die Nonsense-Komik eines Helge Schneider oder der britischen Monty Python streifen. Wie auf einer Kette reihen sich die illusorischen Kostbarkeiten aneinander, jede circensische Perle schimmert in anderem Licht und löst bei den Betrachtern wonnige Freude am Gesehenen aus. Schon zur Pause dröhnt donnernder Applaus, am Ende springt das Publikum aus den Sitzen und überschüttet die Zirkuskünstler mit frenetischem Jubel. – erschienen im September 2005 in der Westdeutschen Zeitung Düsseldorf
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