Wahre Größe zeigt sich bei einem Künstler vor allem dann, wenn er vom seinem eingesetzten Material überraschend im Stich gelassen wird. Gerne erinnert man sich an große Violinisten, die durch das Reißen einer Saite gezwungen wurden, ihre Kadenz kurzerhand auf die drei verbliebenen Stränge zu transponieren. Eine ähnliche Erfahrung macht Branford Marsalis bei seinem einzigen NRW-Konzert in der Tonhalle, als ihm zur Zugabe sein Tenor-Saxophon den ordnungsgemäßen Dienst verweigert. Doch gibt sich Mr. Marsalis in dieser Situation genauso souverän, wie er es bereits den Abend über getan hat. Mit lässigem "Alles klar" (bei ihm klingt es eher wie "Ahsklah") und zeigt er mit gehobenem Daumen nach einigem Gedrehe am S-Bogen an, dass es nun losgehen kann. Letztlich braucht es aber doch noch ganze drei Anläufe, bis die Henry Purcell-Adaption "O Solitude" endlich störungsfrei aus dem Schalltrichter steigt. Übel nimmt dies keiner im Saal, im Gegenteil. Umso begeisterter wird der letzte samtweich hervorgebrachte Ton bejubelt, den der Amerikaner durch die blaue Kuppel schickt. Es ist der Schlusspunkt hinter einen musikalischen Vortrag, der reich an Sprachen, Lächeln, Spielfreude und Farbigkeit ist. Zusammen mit seinen Musikern Joey Calderazzo (kann am Klavier kaum stillsitzen), Eric Revis (steht am Bass wie ein Fels) und Jeff "Tain" Watts (entfesselt am Schlagzeug verschmitzt lebhafte Grooves aus dem untersetzen Bauch) präsentiert Branford Marsalis in feinem Zwirn Stücke seiner aktuellen CD "Braggtown". Eng beieinander stehen die vier Musiker auf der Bühne, den Bandleader kreisrund umrahmend und lassen sich doch viel gegenseitigen Raum zur solistischen Entfaltung. Der Chef spaziert dabei gerne einmal auf der Bühne umher, tritt aus dem Kreis seiner Band und lässt diese alleine weiter schnurren. Ansagen gibt es keine, es gilt die alte Musiker-Losung "Let the music do the talking". Und diese Sprache ist beim Branford Marsalis Quartet nach wie vor ungewöhnlich vielseitig. Beinahe taktweise schafft das Ensemble den Sprung von einem Jazzstil in den nächsten. Seine langen Jahre in den Bands von Art Blakey, Miles Davis und Sting gießt Branford Marsalis mittlerweile sehr erfolgreich in seine eigene Musik. Von schwerem Blues geht es in effektvoll zurückgehaltenen Swing bis zu sprudelndem Bebop mit irrlichternden Skalenläufen. Selbst karibisches Flair bleibt nicht außen vor und auch scheinbar ausgetretene Pfade wissen die Vier erneut zu beleben. So kommt die zarte Ballade "Hope" mit dem 46-jährigen Branford am Sopransaxofon klangschön und klischeefrei daher. Was keinesfalls selbstverständlich ist, denn auf diesem Gebiet haben Täter wie Kenny G. bereits viel kaputt gemacht. Bevor es nach dem regulären Programm in die erwähnte Zugabenproblematik geht, liefert das Quartet im Finale noch einmal Parallelgenüsse an allen Instrumenten. Auch wenn sich dabei die am Schlagzeug erzeugte Dramatik nicht vollends auf den Rest der Band überträgt, im Publikum zeigt es reichlich Wirkung und entlässt die vier Jazzer mit großem Applaus. – erschienen im Oktober 2006 in der Westdeutschen Zeitung Düsseldorf
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Der Popwart
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