Muss das denn wirklich sein? Da hat man sich so gerade von der Idee des hiesigen Sommers verabschiedet, da kommt Meret Becker daher und besingt in einer Hommage an Finnland die Freude an Schnee, Polarluft und einem halben Jahr Dunkelheit. "Høllekin gen 41°" ist der erklärungsbedürftige Titel ihres Konzerts beim Altstadtherbst, zu dem sie ihre Ars Vitalis Begleiter Buddy Sacher (Gitarre) und Peter Wilmanns (unter anderem an Klarinette und Mundorgel) mitgebracht hat. "Høllekinkøllekin" ist die traditionelle Formel, die sich der Ottonormalfinne bekanntermaßen gern und oft zum erhobenen Starkbier zuruft und den Meret - an diesem Abend verzichtet sie auf ihren offenbar zu unskandinavischen Nachnamen – mit viel schwärmerischer Empfindung auf 41° gen Nord-Nordost sendet. Nach rund 1500 Kilometer erreicht man auf diese Art Helsinki. Finnland heißt also das liebeserklärte Ziel der melancholischen Schwelgerei in leisen Tönen, die das Trio vor ausverkauften Reihen im Isis-Zelt präsentiert. Neben einer ganzen Reihe an illustren Musikinstrumenten wie singender Säge, Kinderklavier, Spieluhren oder auch einer Hutschachtel als Schlagzeug-Ersatz hat Meret Becker auch ganz viel trauriges Liedgut aus dem hohen Norden im Gepäck. Im weißen langen Kleid, schwarzem Tuch um die Schultern und hochgesteckten Haaren ist sie optisch eine Mischung aus Björk und den Bewohnern des Schwarzwaldhauses von 1900. Sie bekennt, selbst noch nicht in Finnland gewesen zu sein, doch die gängigen stereotypen Häppchen über die Kultur der eisigen Nordmänner beherrscht sie dennoch aus dem Effeff. Natürlich muss deshalb die Bühne mit halbleeren Bier- und Schnapsflaschen übersät sein und es müssen auch ein paar rotweinselige Aphorismen dran glauben: "Wenn ich alles getan hätte, was ich könnte, dann wäre ich heute tatenlos". Das ist ein bisschen abgegriffen und liebäugelt etwas zuviel mit Klischees, aber was die Drei an musikalischer Poesie hervorzaubern, ist von feiner Klasse und raffinierter Klangschönheit. Buddy Sacher, glaubhafter Bohéme mit weißen Lederschuhen, lässt seine Gitarren wunderbar beseelt singen, Peter Wilmanns ergänzt mit verträumter Bassklarinette und Meret singt in glitzernden Facetten. Zwar sind manche der Kinderlieder, französischen Chansons und lagerfeurigen Country-Balladen eigentlich zu tief für ihre Stimme, manchmal röhrt sie auch zum finnischen Tango wie eine freche Göre oder krächzt sich als Eishexe durch windschiefe Polkas. Aber das alles fügt sich zusammen, verbindet sich zu Musik wie im Abspann eines Aki-Kaurismäki-Films. Die surreale Stimmung vertiefen projizierte Stimmungsbilder, so dass zu sphärisch klingender Glasorgel der vor einer Leinwand singenden Meret auch mal ein finnisches Rentiergeweih aus dem Kopf wächst. Das Publikum ist angerührt von so vielen schwermütigen Seufzern und verklärtem Andenken an die Kindheit, es dankt mit langem Applaus nach dem "Finnale". – erschienen im September 2005 in der Westdeutschen Zeitung Düsseldorf
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